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20/06/2024
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Muss ich als Arbeitgebender auch bei Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitsnehmenden Entgeltfortzahlungen leisten?

Lange Jahre galt die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Arbeitnehmenden nahezu als unantastbar. In der letzten Zeit tendiert die Rechtsprechung aber immer mehr dazu, Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmenden zuzulassen. Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Nils Wigger von der Kanzlei Wittig Ünalp erklärt, wann Arbeitgebende eine Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmenden anzweifeln können.

Die meisten Arbeitgebenden kennen den Sachverhalt. Der Arbeitnehmende meldet sich krank und erhält eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Der Arbeitgebende hat jedoch aufgrund der Umstände erhebliche Zweifel daran, dass der Arbeitnehmende wirklich arbeitsunfähig erkrankt ist. Viele Arbeitgebende stellen sich daher die Frage, wann Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeit berechtigt sind.

Wann muss der Arbeitgebende eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einholen?

Entgeltfortzahlung bei ArbeitsunfähigkeitSind Arbeitnehmende arbeitsunfähig erkrankt, so haben sie nach § 3 Absatz 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) für einen Zeitraum von sechs Wochen Anspruch gegen den Arbeitgebenden auf Fortzahlung der Vergütung. Im Gegenzug haben die Arbeitnehmenden aber die Nachweispflicht.

So ist in § 5 Absatz 1 Satz 2 EntgFG geregelt, dass der Arbeitnehmende, wenn die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage andauert, eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer einzuholen hat. Dies gelingt durch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Seit dem 01.01.2023 soll diese von den Ärzten für gesetzlich versicherte Arbeitnehmende als elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) ausgestellt werden. Der Arbeitgebende darf – auch ohne Anlass – anordnen, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits ab dem ersten Tag eingeholt werden muss.

Wann sind Zweifel an der AU-Bescheinigung gerechtfertigt?

Das Bundesarbeitsgericht hat durch Beschluss vom 08.09.2021 (AZ: 5 AZR 149/21) festgestellt, dass Zweifel an dem Vorliegen einer Erkrankung berechtigt sind, wenn ein Arbeitnehmender eine Eigenkündigung des Arbeitsverhältnisses ausgesprochen hat und passgenau ab dem Tag der Arbeitsunfähigkeit bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen einreicht.

Das Bundesarbeitsgericht hat die Rechtsprechung im Jahr 2023 im Urteil vom 13.12.2023 (AZ: 5 AZR 137/23) sogar ausgeweitet. So soll der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch dann erschüttert sein, wenn der Arbeitnehmende nach Zugang der Kündigung des Arbeitgebenden ein oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen. Fängt der Arbeitnehmende dann unmittelbar nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung an, so sind nach dem Bundesarbeit erhebliche Zweifel gerechtfertigt.

Fallbeispiel:
Mit Schreiben vom 02. Mai kündigt der Arbeitgebende das Arbeitsverhältnis zum 31. Mai. Der Arbeitnehmende legt für den Zeitraum vom 02. bis zum 31. Mai mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, die nahtlos ineinandergreifen. Ab dem 01. Juni tritt der Arbeitnehmende – wieder gesundet – ein neues Arbeitsverhältnis an.

In welchen Konstellationen sind Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung noch berechtigt?

Es gibt noch weitere Konstellationen, in denen der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein kann:

  • Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wurde ohne ärztliche Untersuchung ausgestellt. Auch eine Krankschreibung per Telefon- oder Videountersuchung ist nur in bestimmten Fällen zulässig.
  • Die Arbeitsunfähigkeit erfolgt immer wieder „zufällig“ im Anschluss oder direkt vor einem Urlaub.
  • Während der Arbeitsunfähigkeit arbeitet der Arbeitnehmende für einen Arbeitgebenden mit einer vergleichbaren Tätigkeit.
  • Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beruht für länger als sieben Tage nur auf Symptomen und es wird keine klare Diagnose vom Arzt angegeben.
  • Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weist einen Beginn der Arbeitsunfähigkeit aus, der mehr als zwei Tagen zurückliegt.

In all diesen Fällen gilt der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert.

Was ist die Folge der Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?

Zweifel an ArbeitsunfähigkeitDie Folge der Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist, dass die volle Darlegungs- und Beweislast für die Erkrankung, die zur Arbeitsunfähigkeit führt, wieder auf den Arbeitnehmenden übergeht.

Der Arbeitnehmende muss insofern beweisen, dass er tatsächlich aufgrund der Erkrankung unfähig war zu arbeiten. Dies kann möglicherwiese gelingen, in dem der Arbeitnehmende seinen Arzt/ seiner Ärztin von der Schweigepflicht entbindet. Kann der Arzt eine genaue Diagnose nachweisen, indem er die Untersuchung darstellt und gegebenenfalls Blutwerte oder sonstige Untersuchungsergebnisse vorlegt, so wird dem Arbeitnehmenden der Beweis der Erkrankung gelingen. Hat stattdessen nur eine oberflächliche Untersuchung oder gar eine Krankschreibung ausschließlich nach telefonischer Konsultation des Arztes/der Ärztin stattgefunden, dürfte der Arbeitnehmende Schwierigkeiten haben, seine tatsächliche Erkrankung zu beweisen.

Kann der Arbeitnehmende seine Erkrankung nicht tatsächlich beweisen, hat er auch keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung.

Was soll ich als Arbeitgebender in einem Verdachtsfall tun?

Hat der Arbeitgebenden den Verdacht, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist, kann er zunächst einmal die Entgeltfortzahlung einstellen. Der Arbeitnehmende muss sich sodann überlegen, ob er den Entgeltfortzahlungsanspruch vor dem Arbeitsgericht einklagt.

Gibt es konkrete Hinweise darauf, dass die Arbeitsunfähigkeit nur vorgetäuscht ist, kann der Arbeitgebende sogar weitere Maßnahmen ergreifen. Kann das Vortäuschen der Arbeitsunfähigkeit nachgewiesen werden, kommt eine – auch außerordentlich fristlose – Kündigung des Arbeitsverhältnisses in Betracht. Bleibt es bei einem dringenden Verdacht, so kann eine sogenannte Verdachtskündigung des Arbeitsverhältnisses ausgesprochen werden.

Fazit: Bei berechtigten Zweifeln sollten Arbeitgebende handeln

Die neue Rechtsprechung ist sicherlich kein „Freifahrtschein“ für Arbeitgebende jede Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung anzuzweifeln. Dies würde auch Unruhe in den Betrieb bringen. Bei berechtigten Zweifeln sollte der Arbeitgebende jedoch handeln und zunächst die Entgeltfortzahlung einstellen. Es ist sodann an dem Arbeitnehmenden, sich das Geld einzuklagen und seiner Darlegungs- und Beweislast nachzukommen.

Nils Wigger

Über den Autor: Nils Wigger berät und vertritt als Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Kanzlei Wittig Ünalp Arbeitgeber bei sämtlichen individual- und kollektivrechtlichen Themen.

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